Wellness und Gesundheit

Älter werden und Bewusstsein (geschrieben im Jahre 2007)


Einer der alten Meister, der Philosoph Ernst Bloch, hat s einmal so gesagt: Im Alter haben wir die Chance zu mehr eigenwilligem Leben. Wir können ohne Hast und Eile das Wichtige sehen, das Unwichtige vergessen. Ich stimme dem zu.

Es fokussiert sich. Ich merke es bei mir selber, je älter ich werde, trenne ich inzwischen schärfer zwischen wichtig und unwichtig. Ich filtere Unwesentliches heraus. Man erfährt einerseits die eigene Begrenztheit, man hofft zwar immer noch auf Unendlichkeit, aber man sieht und akzeptiert die eigenen Grenzen und fragt nach dem, was für einen selber zum Kern gehört. Diese Entwicklung zu zunehmender Konzentration und klarer werdender Unterscheidung erfahre ich als sehr positiv. Ich gehe weiter unbefangen in die Welt, sammle neue Eindrücke, dann fügt sich wieder etwas, und auf einmal macht es „Klick“.
Und so finde ich es eigentlich wunderbar, immer älter zu werden, weil jeden Tag etwas Neues kommt. Okay, okay, als Frau sieht man beim älter werden leider noch einige andere Problemchen, doch die sind gesellschaftlich aufgezwungen, und haben nichts mit der Substanz zu tun.
Grundsätzlich ist das Altern wie ein Puzzle, es ordnen sich die kleinen Einzelteile. Vorher macht man dieses und jenes, die verschiedensten Dinge, man setzt sich mit tausend Problemen und Fragen auseinander, und auf einmal wird das runder und runder, man hat das Gefühl: Du kommst langsam dem Sinn des Lebens näher. Das Leben wird wesentlicher, die Quintessenz des Lebens wird spürbar deutlicher. Vorbei die Zeiten der Oberflächlichkeit. Vorbei die Vorstellung, man sei nur allein für die eigene Familie da. Vorbei der Trubel mit den verflixten Wochenendgestaltungen: hierhin, da hin, dort hin. Diese und jene Bekannte besuchen. Dies reduziert sich alles, wird immer unwichtiger, der Blick wird weiter.
Manchmal zweifle ich auch, ob mir der Sinn je erschlossen wird. Vielleicht müssen wir dazu ja noch mehrere Leben leben und das Leiden überwinden, wie der Buddhismus es lehrt. Aber trotzdem ordnet sich immer mehr. Und deswegen bin ich dankbar für jeden Tag, an dem ich wieder aufs Neue hinterfragen kann, aufs Neue verwerfen kann und so dem Zentrum der Fragen immer näher komme.
Das Bewusstsein des Todes, das oft als zentral in der Begegnung mit dem Alter gesehen wird, erschreckt mich nicht. Durch die Nahtoderfahrungen, die ich gemacht habe, hat die Vorstellung von Sterben und Tod ihre bedrohliche Qualität verloren.
Am Ende des Alters steht natürlich der Tod. Für mich bedeutet er einen Übergang. Ich sehe ihn weder als Höhepunkt meines Lebens noch als Bedrohung des Eigentlichen, er gehört eben dazu. Dass wir ihm im Prozess des Alterns lebensgeschichtlich näherkommen, das schärft den Blick für den Zusammenhang des ganzen Lebens. Das Alter bietet uns aber auch gleichzeitig die Chance, das Gesamte zu erfassen und den Sinn unseres Lebens als Mensch auf dieser Erde zu verstehen. Diese Sichtweise bringt mir Gelassenheit und Ruhe auf der einen Seite und die Kraft zur Intensivierung, ja, zur Beschleunigung dessen, was mir wichtig ist, auf der anderen. Das habe ich bei Tod meiner Mutter erlebt. Wenn es morgen zuende sein kann, dann muss ich heute zusehen, dass ich meine Aufgabe jetzt und heute noch ein Stück weiterbringe, dass ich also noch ein Pflänzchen auf die Erde bringe. Leben wird dadurch nicht hektischer, sondern intensiver. Es geht darum, das Feld zu bestellen und den Garten zu gestalten. Wenn jemand einwendet: die Zeit schwindet doch! Dann sage ich: Genau deswegen! Genau deswegen ist es gerade jetzt höchste Zeit zu handeln. Denn unsere Verantwortung geht weiter.

Ich liebe das Leben. Ich möchte 80 Jahre alt werden, alles, was darüber hinausgehen sollte, sehe ich als geschenkte Jahre an.
Wir Menschen entscheiden nicht, wann wir diese Welt betreten oder verlassen, aber wir haben alle Möglichkeit und Verpflichtung, durch unsere Existenz das Leben sorgsam zu pflegen und zum Blühen zu bringen, so wie es der Gärtner mit seinem Garten tut.
Ich möchte ohne Schmerzen und, wenn denn nicht anders möglich, wenigstens mit erträglichen Gebrechen leben. Wenn ich „klapprig“ werde, möchte ich die Unterstützung einer hochdifferenzierten Medizin bekommen, die so vielschichtig ist, dass sie mich auch im hohen Alter als Menschen wahrnimmt. Und ich möchte jemanden, der mich in die Arme nimmt und hinüberbegleitet, auch wenn ich verwirrt sein sollte. Ich möchte nicht durch Sterbehilfe umgebracht werden, weil das System aus Kostengründen versagt hat.
Und vor allem möchte ich mich an diesem einzigartigen kurzen Dasein bis um letzten Atemzug freuen. In tiefem Respekt vor dem Gesamtkunstwerk: Leben.

Ein wunderbares Gedicht von Albert Schweitzer trifft es genau:

Bewahre das Alter
Jugend ist nicht nur ein Lebensabschnitt –
Jugend ist ein Geisteszustand.
Sie ist der Schwung des Willens, Regsamkeit der Phantasie,
Stärke der Gefühle,
Sieg des Mutes über Feigheit,
Triumph der Abenteuerlust über die Trägheit.

Niemand wird alt,
weil er eine Anzahl Jahre hinter sich gebracht hat.
Man wird nur alt,
wenn man seinen Idealen Lebewohl sagt.
Mit den Jahren runzelt die Haut,
mit dem Verzicht auf Begeisterung
aber runzelt die Seele.

Du bist so jung wie deine Zuversicht,
so alt wie deine Zweifel.
So jung wie dein Selbstvertrauen,
so alt wie deine Furcht.
So jung, wie deine Hoffnungen und Lieben,
so alt wie deine Verzagtheit und Angst.

Solange die Botschaften der Schönheit,
Freude, Kühnheit und Größe und Gefühle dein Herz erreichen,
solange bist du jung!



Oh ja, es gibt durchaus Grund, zuversichtlich in die eigene Lebenszukunft zu schauen. Die Zeit des Alters wird immer mehr zu einer positiven und aktiven Phase. Sie bietet vielfältige Möglichkeiten, nicht nur, um am Leben der Gemeinschaft teilzunehmen, sondern auch im Hinblick auf die eigenen Möglichkeiten des Individuums.
Wir werden in Zukunft hoffentlich mehr würdigen und erkennen, welche Reichtümer das Alter für uns selbst und für die Gesellschaft bereit hält: Mit 50 oder 90 sich frisch verlieben, mit 60 ein neues Cabrio anschaffen, mit 70 das Internet entdecken und mit 80 ein Buch schreiben, mit über 80 in Talkshows sitzen, wie unsere ehemaligen Bundespräsidenten Scheel und von Weizsäcker, und mit 100 Konzerte geben wie Joopi Heesters. Michelangelo und Tizian malten ihre bedeutendsten Werke mit weit über 80, Goethe schrieb die letzten, bis heute frischen Verse von Faust II mit knapp 82. Und damals war das Stadium der Medizin kaum über das der „Barfußmedizin“ hinausgekommen.

Alter ist auch eine kreative Zeit. Bei Künstlern spricht man vom Altersstil als einer eigenen Phase mit einer ganz neuen Ausgeprägung individueller schöpferischer Möglichkeiten.
Picasso hat im hohen Alter zu einem ganz neuen Stil der Einfachheit gefunden. Von ihm stammt auch der Satz: „ Es dauert sehr lange, bis man jung ist.“
Das heißt, man muss vieles wieder mühsam verlernen, was man sich antrainiert hat. Man gewinnt eine neue Naivität, möglicherweise auch eine neue Leichtigkeit des Seins, wenn man den Stress der beruflichen Existenz hinter sich lässt.
„Die schwersten Jahre sind die zwischen zehn und siebzig“, hat mir einst meine Mutter gesagt. Vieles relativiert sich, rückt in ein neues Licht.
Man nimmt, wenn man älter wird, die früheren Erfahrungen mit. Die trägt man mit sich, und sie werden erstaunlicherweise auch immer wieder ausgegraben. In der Auseinandersetzung zwischen den Generationen erfährt man das durchaus positiv. Deshalb ist es so wichtig, dass Alt und Jung sich auseinandersetzen, dass sie zusammenfinden nicht nur im gemeinsamen Handeln, sondern auch im gemeinsamen Durchdenken und Durchleben gemeinsamer Themen. Diese Auseinandersetzung trägt dazu bei, dass die nächste Stufe der Erkenntnis erreicht wird. Was wäre ich ohne die tägliche Kommunikation mit der Jugend, besonders mit meinen Kindern?
Und wenn dann noch die innerliche Ruhe dazukommt, glaube ich, kann das geschehen, was die alten Meister in allen Religionen und Kulturen immer wieder als Kern der Weisheit thematisiert haben: Dann kann und wird ein richtiger Erkenntnissprung stattfinden. 

Altern hat für mich viel mit Würde zu tun. Mit Respekt vor dem eigenen Leben
und Lebensweg, vor all den Erfahrungen, die ich machen durfte und musste,
den guten, sowie den schlechten und denen, auf die ich gut hätte verzichten
können, wäre ich zuvor gefragt worden. Letztendlich machen sie mich alle aus,
sie machen mein Leben aus und, ja, tatsächlich: ich möchte keine von ihnen
missen. Denn alles, was mich geprägt hat, was mir widerfahren ist, ob es nun in
meiner Verantwortung lag oder nicht, macht mich nicht nur zum Beteiligten in meinem
Leben, es macht mich zum Protagonisten. Niemand sonst vermag je auf meinem
Lebensberg stehen und diese Sicht sein eigen nennen. Ich begegne dem mit großem
Respekt, dem Leben und dem Älterwerden anderer gegenüber. Das Bewusstsein, wie
wertvoll jede Minute unserer Lebenszeit ist, wie wir sie verleben, mit wem und
womit, das ist da - und wie! Dazu gesellt sich das Bewusstsein der eigenen
Endlichkeit...ja, ich werd nicht nur älter und alt, ich sterbe auch -
unweigerlich. Ja, Bewusstsein begleitet mein Älterwerden. Nutze jede Minute so
wertvoll und intensiv wie möglich, sagt es mir, so aufrichtig und so vollkommn
wie du bist, mit all deinen Fehlern, Vorzügen, deinem Know-How, deinen Gefühlen,
all deiner Achtsamkeit. Trete auch mal neben die "Etikette", und du wirst
spüren, wie gut du auch dort stehen kannst...


„Lebe das Unmögliche – trau dich!“